Von Hu Chunchun
In diesen Tagen, wo gerade auf der Welt verschiedene Krisen toben, hat man in China etwas zu feiern: Die „Belt and Road“-Initiative ist in das zehnte Jahr gekommen. In Deutschland ist die chinesische Initiative als die „Neue Seidenstraße“ bekannt, eine Bezeichnung, die im deutschen Kontext auch plausibel ist. Denn der etablierte geschichts- wie kulturwissenschaftliche Begriff der „Seidenstraße“ ist ursprünglich eine deutsche Prägung: 1877 verwendete der deutsche Geologe und Geograf Ferdinand von Richthofen (1833-1905) in seinem fünfbändigen Werk China. Ergebnisse eigener Reisen und darauf gegründeter Studien diesen Begriff und verlieh der alten Handelsroute mit der bekanntesten Handelsware, nämlich der Seide aus China, einen Namen. Wohlgemerkt: Die Seidenstraße ist historisch schon auf die vorchristliche Zeit zurückzudatieren und verbindet die beiden damals einander bekannten Zivilisationen des Morgen- und des Abendlandes miteinander.
Die Seidenstraße, entlang der Waren, Ideen und Kulturen ausgetauscht wurden, steht sinnbildlich für die erfolgreiche Entwicklungsgeschichte der Menschheit. Von daher ist es nur zu begrüßen, dass man sich nach Jahrhunderten der Trennung und Kriege auf diese historische Erfahrung besinnt. Vor zehn Jahren ist es tatsächlich passiert: China hat die „Belt and Road“-Initiative ins Leben gerufen. Der Name „Initiative“ deutet darauf hin, dass es sich dabei um ein von China ausgehendes, aber keinesfalls von China abschließend definiertes und somit offenes Projekt handelt. Willkommen an Bord sind alle Länder, die sich gerne an Erschließung und Vernetzung von Handelsrouten einschließlich der Infrastruktur beteiligen. Das beste Beispiel dafür sind die Länder Lateinamerikas, die, nicht im klassischen Sinne an den gedachten Handelsrouten liegend, auf Eigeninitiative doch „eingemeindet“ worden sind. Diese offene Struktur führte in den Anfangsjahren auch dazu, dass es „Trittbrett“-Projekte gegeben hat, die in den China-kritischen Medien mit besonderer Aufmerksamkeit aufgegriffen wurden.
Nach zehn Jahren der „Belt and Road“-Initiative lässt sich feststellen, dass hinter der Initiative wahrlich kein „grand plan“ wie angenommen steht, stattdessen eine „grand idea“: China hat wirtschaftlich enorm vom Austausch mit anderen Ländern profitiert. Es gilt nun, andere zur Teilhabe an dieser Erfahrung einzuladen. Die Zahlen sprechen für eine Erfolgsgeschichte und versprechen noch weitere. Bereits über 150 Länder und mehr als 30 internationale Organisationen haben sich der Initiative angeschlossen. Das Handelsvolumen Chinas mit den Partnerländern in den Jahren zwischen 2013 bis 2022 ist jährlich um 8,6 Prozent, die nichtfinanziellen Direktinvestitionen um 5,8 Prozent gestiegen. Insgesamt sind 270 Milliarden US-Dollar Investitionen involviert und 420.000 Arbeitsplätze in den BRI-Ländern außerhalb Chinas geschaffen worden. Und das Konzept der Initiative hat sich von den anfänglichen Handelsrouten und Infrastrukturprojekten zur umfassenden Entwicklungszusammenarbeit entwickelt, durch die unter anderem „öffentliche Güter“ angeboten werden sollten. Die World Bank Group kommt in einer Analyse von 2019 zu der Prognose, dass die Initiative 7,6 Millionen Menschen aus der extremen Armut und 32 Millionen aus der mittleren Armut befreien könnte. Der Welthandel lasse sich um bis zu 6,2 Prozent und die Wirtschaft in den Korridoren um bis zu 9,7 Prozent steigern.
Der erste Vollzeitbetrieb-Güterzug zwischen China und Europa, der X8155, ist am 7. November 2022 in Duisburg angekommen. (Foto von Ma Xiuxiu/ China News Service)
Die antike Seidenstraße bestimmt noch die Assoziationen der Neuen Seidenstraße: Es geht nämlich bei der „Belt and Road“-Initiative in erster Linie um die weniger entwickelten Volkswirtschaften in Zentralasien bzw. im eurasischen Raum. Aber auch Deutschland profitiert von der Initiative. 2022 ist China zum siebten Mal in Folge der größte Handelspartner Deutschlands gewesen. Die Stadt Duisburg, die an einem wichtigen Knotenpunkt bzw. dem westlichen Ende der „Eisernen Seidenstraße“, nämlich des Schienenverkehrs, liegt, hat seit dem Besuch des chinesischen Staatspräsidenten Xi Jinping im Jahre 2014 in China sogar eine erstaunliche Prominenz erlangt. Direktinvestitionen und chinesische Unternehmen vor allem in der Logistikbranche sind seitdem hierhergezogen. Die Deutsche Bahn betreibt über die neue Güterverkehrstochter DB Cargo Transasia Direktverbindungen zwischen China und 18 europäischen Ländern. Schon während der Pandemie hat das DB-Unternehmen mehr als zehn Routen zwischen China und Europa eröffnet, unter anderem die Verbindung zwischen Shanghai und Hamburg im September 2021, und damit für eine funktionierende Verbindung zwischen China und Europa in schwierigen Zeiten gesorgt. Bis zum Jahr 2025 will die Deutsche Bahn jährlich 500.000 Container zwischen Asien und Europa transportieren und so die Kapazität innerhalb von drei Jahren mehr als verdoppeln. Nicht zufällig stehen Biere aus Deutschland inzwischen selbst in den kleinsten Läden in China, die gern als „Belt-and-Road-Biere“ bezeichnet werden.
In der deutschen Debatte um die „Belt and Road“-Initiative dominiert aber zurzeit die geopolitische Interpretation des Projektes, die in China vor allem eine Herausforderung mit Rivalitätscharakter für Europa bzw. Deutschland sieht. Auch hier zeigt sich eine historische Parallele: Ist diese Sicht vielleicht durch die seinerzeit kolonialistische Motivation von Richthofens geprägt und eingeengt? Denn von Richthofen war mit einer Mission unterwegs, die darin bestand, den europäischen bzw. deutschen Einfluss auf China auszudehnen. Von solchen Nullsummengedanken und Großmachtphantasien des 19. Jahrhunderts soll man sich heute endgültig verabschieden. Der Welt fehlt es nicht an Armut, Flucht und Konflikten, dagegen aber an praktikablen, grenzüberschreitenden Entwicklungsperspektiven. Es ist wünschenswert, dass Deutschland und Europa den Wunsch der Länder der „Belt and Road“-Initiative nach Entwicklung ernst nehmen und gleichzeitig konstruktiv über die experimentbedingten Mängel der Initiative sprechen. Diese diskursive Hürde auf der deutschen Seite kann genommen werden. Schließlich gehört Deutschland nicht nur zu den Gründungsmitgliedern der AIIB und verfügt über entsprechende Instrumente der Mitwirkung und -gestaltung. Sondern auch viele weitere Ziele verbinden Deutschland und China im Sinne der „Belt and Road“-Initiative: grüne und inklusive Entwicklung, Frieden und Sicherheit. Während China mit seinem „Primat der Entwicklung“ und seiner „ungebremsten Bauwut“ auf die Welt schaut, könnte Deutschland mit seinen hohen Standards der technischen und sozialen Entwicklung die Rolle eines willkommenen Partners und einer nötigen Ergänzung spielen.
(Der Autor ist Direktor des Masterstudiengangs „Europastudien“ an der Shanghai Academy of Global Governance and Area Studies, Shanghai International Studies University. Die Meinung des Autors spiegelt die Position unserer Webseite nicht notwendigerweise wider.)